DAS ANTLITZ DES FEINDES
Während
Roran den Rest des Tages verschiedensten Aufgaben nachging, spürte
er bis in sein tiefstes Inneres, wie leer es auf einmal in
Carvahall war. Es war, als hätte man dem Ort einen Teil seiner
Seele genommen und in den Buckel verpflanzt. Ohne die Kinder wirkte
das Dorf nun endgültig wie eine Festung. Die plötzliche Verwandlung
schien die Übriggebliebenen ernst und mürrisch zu machen.
Als die Sonne schließlich in die Zähne des
Buckels hinabsank, erklomm Roran den Hügel zu Horsts Haus. Vor der
Eingangstür blieb er stehen und legte die Hand auf den Knauf, doch
dann verharrte er. Er brachte es nicht über sich
hineinzugehen. Ich habe auf einmal
beinahe so große Angst wie vor einem Kampf, erkannte er
verblüfft.
Schließlich ging er um das Haus herum und
schlüpfte durch die Hintertür in die Küche, wo er zu seiner
Enttäuschung Elain erblickte, die häkelnd am Tisch saß und sich mit
Katrina unterhielt. Katrina wandte sich zu ihm um und aus Roran
platzte es heraus: »Geht es... Geht es dir wieder gut?«
Katrina kam zu ihm. »Ja.« Sie lächelte
leise. »Es war nur ein solcher Schock, als Vater... als er...« Sie
zog für einen Moment den Kopf ein. »Elain war sehr lieb zu mir. Ich
darf heute in Baldors Zimmer schlafen.«
»Ich bin froh, dass es dir wieder besser
geht«, sagte Roran. Er trat auf sie zu, umarmte sie und versuchte,
seine ganze Liebe und Bewunderung in diese einfache Berührung zu
legen.
Elain packte ihr Häkelzeug beiseite. »Komm
jetzt! Es ist dunkel geworden und du musst schleunigst ins Bett,
Katrina.«
Widerwillig ließ Roran Katrina los. Sie gab
ihm einen Gutenachtkuss. »Bis morgen früh.«
Er wollte ihr nachgehen, blieb aber stehen,
als Elain in scharfem Ton sagte: »Roran!« Ihre fein geschnittenen
Züge waren hart und ernst.
»Ja?«
Elain wartete, bis sie das Knarren der
Stufen vernahmen, das signalisierte, dass Katrina außer Hörweite
war. »Ich hoffe, du hast jedes Wort und jedes Versprechen, das du
dem Mädchen gegeben hast, ernst gemeint, denn wenn nicht, berufe
ich das Dorftribunal ein und lasse dich verbannen.«
Roran war perplex. »Natürlich meine ich es
ernst! Ich liebe sie!«
»Katrina hat heute alles, was ihr gehört und
woran ihr etwas liegt, für dich aufgegeben.« Elain sah ihn
eindringlich an. »Ich habe Männer gesehen, die ihre Gunst an Frauen
verteilt haben wie Korn, das man an Hühner verstreut. Die jungen
Dinger seufzen und weinen vor Glück und glauben, etwas Besonderes
zu sein, doch für den Mann ist es nur ein flüchtiges Abenteuer. Du
warst immer ein anständiger Kerl, Roran, aber die Lenden eines
Mannes können selbst den nettesten Burschen in einen liebestollen
Narren oder einen verschlagenen Fuchs verwandeln. Bist du so einer?
Denn Katrina braucht weder einen Narren noch einen Schwindler, ja
nicht einmal Liebe ist das Wichtigste. Was sie vor allem braucht,
ist ein Mann, der sie ernährt. Wenn du sie verlässt, ist sie die
ärmste Frau im Dorf. Sie müsste von Almosen leben, wäre unsere
erste und einzige Bettlerin. Beim Blut in meinen Adern, das werde
ich nicht zulassen!«
»Ich auch nicht«, protestierte Roran. »Ich
wäre ein herzloser Schuft oder Schlimmeres, wenn ich so etwas
zuließe.«
Elain schob das Kinn vor. »Genau. Vergiss
nicht, du beabsichtigst, eine Frau zu heiraten, die sowohl ihre
Aussteuer als auch die Erbschaft ihrer Mutter verloren hat.
Begreifst du, was das für Katrina bedeutet? Sie hat kein
Silberbesteck, keine Wäsche, keine Vorhänge, keinerlei Hausrat,
nichts, was man für ein anständiges Heim benötigt. Diese Dinge sind
unser einziger Besitz, sie werden seit dem Tag unserer Besiedlung
Alagaësias von der Mutter zur Tochter weitervererbt. Sie bestimmen
unseren Wert. Eine Frau ohne ihre Erbschaft ist wie … wie...«
»Wie ein Mann ohne Hof oder Geschäft«,
ergänzte Roran.
»Ganz genau. Es war grausam von Sloan,
Katrina zu enterben, aber das lässt sich nun wohl nicht mehr
ändern. Ihr beiden habt kein Geld und keine Rücklagen. Das Leben
ist auch ohne diese zusätzliche Erschwernis mühsam genug. Ihr
werdet mit nichts anfangen, nur mit der blanken Erde unter euren
Händen. Erschreckt dich diese Aussicht oder scheint sie dir
unerträglich? Also, ich frage dich noch einmal - und lüge mich
nicht an, sonst werdet ihr beiden es für den Rest eures Lebens
bereuen -, wirst du ohne Groll, ohne jeden Widerwillen für sie
sorgen?«
»Ja.«
Elain seufzte und füllte zwei Tonbecher mit
Apfelwein aus einer Kanne, die an einem Dachsparren hing. Sie
reichte Roran einen der Becher und setzte sich wieder an den Tisch.
»Dann schlage ich vor, dass du dich fortan darum bemühst, Katrinas
Zuhause und Erbschaft zu ersetzen, damit sie und eure Töchter, die
ihr vielleicht haben werdet, ohne Schande Teil unserer
Frauengemeinschaft sein können.«
Roran trank einen Schluck von dem kühlen
Wein. »Falls wir so lange leben.«
»Natürlich.« Sie strich eine Haarsträhne
zurück und schüttelte den Kopf. »Du hast dir einen schweren Weg
ausgesucht, Roran.«
»Ich musste sicherstellen, dass Katrina
Carvahall verlässt.«
Elain hob eine Augenbraue. »Das war es also!
Nun, dagegen lässt sich nichts einwenden, aber warum in aller Welt
hast du Sloan nicht früher von eurer Verlobung erzählt? Als Horst
bei meinem Vater vorstellig wurde, schenkte er meiner Familie zwölf
Schafe, eine Sau und acht schmiedeeiserne Kerzenhalter, bevor er
überhaupt wusste, ob meine Eltern ihr Einverständnis geben würden.
So macht man so was! Hättest du dir nichts Klügeres einfallen
lassen können, als deinen künftigen Schwiegervater niederzuschlagen
- und dann auch noch vor dem ganzen versammelten Dorf?«
Roran lachte bitter. »Das hätte ich wohl,
aber wegen der Attacken schien nie der richtige Zeitpunkt gekommen
zu sein.«
»Die Ra’zac haben uns jetzt seit sechs Tagen
nicht mehr angegriffen.«
Er verzog das Gesicht. »Nein, aber … Es
war... Ach, ich weiß nicht!« Frustriert schlug er mit der Faust auf
den Tisch.
Elain stellte ihren Becher ab und legte ihre
schlanken Hände um seine. »Falls es dir gelänge, dein Zerwürfnis
mit Sloan jetzt beizulegen,
bevor sich zwischen euch jahrelang Hass aufstaut, würde dein Leben
mit Katrina um vieles leichter. Du solltest morgen früh zu ihm
gehen und ihn um Vergebung bitten.«
»Ich werde ihn um gar nichts bitten! Nicht
ihn!«
»Roran, hör mir zu! Die Sache wäre es sogar
wert, sich einen Monat lang jeden Tag vor seinen Füßen in den Staub
zu werfen, wenn du dafür Frieden in deiner Familie schaffen
könntest. Ich spreche aus Erfahrung. Mit jemandem im Streit zu
liegen, ist unendlich belastend.«
»Sloan hasst den Buckel! Er will nichts mit
mir zu tun haben!«
»Du musst es trotzdem versuchen«, sagte
Elain ernst. »Selbst wenn er deine Entschuldigung zurückweist, kann
man dir hinterher nicht vorwerfen, dass du es nicht wenigstens
versucht hättest. Wenn du Katrina liebst, dann vergiss deinen Stolz
und tu, was am besten für sie ist. Sie soll nicht deinetwegen
leiden müssen.« Sie leerte ihren Becher, pustete die Kerzen aus und
ließ Roran allein im Dunkeln sitzen.
Es vergingen einige Minuten, bevor Roran es
fertig brachte aufzustehen. Er hangelte sich am Küchentresen
entlang, bis er die Tür erreichte, dann tastete er mit den
Fingerspitzen über die Holzwand und stieg die Stufen hinauf. In
seinem Zimmer zog er sich aus und warf sich quer aufs Bett.
Die Arme um das dicke Kissen geschlungen,
lauschte Roran den leisen Geräuschen, die man des Nachts im Haus
hörte: das Tippeln einer Maus auf dem Dachboden und ihre
gelegentlichen Piepser, das Ächzen der in der Nacht abkühlenden
Holzbalken, das Flüstern des Windes am Fenster und … leise Schritte
im Flur.
Er sah, wie sich der Türknauf drehte und die
Tür sich ein Stück nach innen öffnete. Eine dunkle Gestalt
schlüpfte ins Zimmer und Roran spürte weiches Haar und Lippen wie
Rosenblüten über sein Gesicht streichen. Er seufzte.
Katrina.
Ein Donnerschlag riss Roran aus dem
Schlaf.
Grelles Licht schien ihm ins Gesicht,
während er darum rang, richtig wach zu werden, wie ein Taucher, der
verzweifelt versuchte, zur Wasseroberfläche aufzusteigen. Er schlug
die Augen auf und sah das klaffende Loch in der Tür. Sechs Soldaten
stiegen durch die Öffnung ins Zimmer, gefolgt von den beiden
Ra’zac, deren grausige Präsenz den ganzen Raum auszufüllen schien.
Man presste ihm eine Schwertklinge an die Kehle. Neben ihm schrie
Katrina auf und schlang sich die Bettdecke um den Leib.
»Aufssstehn«, befahl einer der Ra’zac. Roran
stieg aus dem Bett. Sein Herz fühlte sich an, als würde es jeden
Moment in seiner Brust explodieren. »Fesselt ihn und bringt ihn
her!«
Als ein Soldat mit einem Strick auf Roran
zutrat, schrie Katrina erneut und stürzte sich, beißend und wild um
sich schlagend, auf die Männer. Ihre scharfen Fingernägel
zerkratzten ihnen die Gesichter, bis das herausschießende Blut den
fluchenden Soldaten die Sicht nahm.
Roran bückte sich blitzschnell und hob den
Hammer auf, dann schwang er ihn über den Kopf und wirbelte unter
lautem Gebrüll herum. Die Soldaten stürzten sich auf ihn und
versuchten, ihn durch ihre Überzahl zu überwältigen, aber es war
vergebens: Katrina war in Gefahr und er raste vor Wut. Schilde
zerbrachen unter seinen gnadenlosen Hammerschlägen, Brustpanzer und
Kettenhemden zerrissen, Helme sprangen entzwei. Zwei Männer waren
verletzt, drei andere stürzten und blieben leblos liegen.
Der Lärm hatte die übrigen Hausbewohner
geweckt. Roran hörte Horsts aufgeregte Rufe durch den Flur
schallen. Die Ra’zac zischten sich etwas zu, dann huschten sie
heran, hoben Katrina mit übermenschlicher Kraft vom Boden und
flohen mit ihr aus dem Zimmer.
»Roran!«, kreischte sie.
Er stürmte an den beiden noch lebenden
Soldaten vorbei und sah im Flur, wie die Ra’zac aus dem Fenster
kletterten. Roran rannte auf sie zu und schlug mit dem Hammer nach
dem letzten Ra’zac, der gerade von der Fensterbank springen wollte.
Der Finsterling riss den Arm in die Höhe, packte Rorans
heranfliegendes Handgelenk und kicherte vergnügt. Sein fauliger
Atem blies Roran ins Gesicht. »Sssehr gut! Wir wollen nämlich
dich!«
Roran versuchte, sich loszureißen, aber der
Ra’zac war zu stark. Mit seiner freien Hand schlug Roran auf dessen
Kopf und die Schultern ein, die hart waren wie Eisen. Verzweifelt
riss er die Kapuze des Ra’zac zurück und entblößte dessen
Gesicht.
Eine grässliche Fratze kam zum Vorschein.
Die Haut war schwarz glänzend, wie der Rückenpanzer eines Käfers.
Der Kopf war kahl. Die lidlosen Augen waren so groß wie seine
Fäuste und schimmerten wie runde, polierte Eisenstücke. Sie hatten
weder eine Iris noch Pupillen. Statt Nase, Mund und Kinn besaß der
Ra’zac einen dicken, krummen Schnabel und eine purpurne, mit feinen
Stacheln besetzte Zunge.
Brüllend stemmte Roran sich mit den Füßen
gegen den Fensterrahmen und versuchte, sich von der Bestie
loszureißen, doch der Ra’zac zog ihn unaufhaltsam aus dem Haus.
Roran konnte unten Katrina sehen, die noch immer schrie und um sich
schlug.
Als Rorans Knie einzuknicken drohten,
tauchte plötzlich Horst neben ihm auf, schlang einen muskulösen Arm
um seine Brust und hielt ihn fest. »Bringt mir einen Speer!«,
brüllte der Schmied. Er keuchte, und an seinem Hals traten die
Adern hervor, während er Roran nach Leibeskräften festhielt. »Um
uns zu übertölpeln, müssen schon andere kommen als diese lausige
Dämonenbrut!«
Der Ra’zac zerrte ein letztes Mal an Roran,
und als er ihn nicht losreißen konnte, neigte er den Kopf und
zischte: »Du gehörst unsss!« Dann schnellte er blitzartig vor und
schnappte mit seinem Schnabel nach Rorans Schulter, stieß ihm mit
aller Kraft ins Fleisch. Gleichzeitig brach mit einem lauten
Knacken Rorans Handgelenk. Dann ließ ihn der Ra’zac mit einem
hasserfüllten Schnattern los und sprang hinunter in die
Dunkelheit.
Horst und Roran sanken erschöpft zu Boden.
»Sie haben Katrina entführt«, stammelte Roran. Sein Sichtfeld
flackerte und wurde an den Rändern schwarz, als er sich mit dem
linken Arm abstützte - der rechte hing schlaff herunter - und sich
mühsam auf die Beine kämpfte. Albriech und Baldor kamen aus seinem
Zimmer. Sie waren mit Blut besudelt. Hinter den beiden Brüdern
lagen die Leichen.Jetzt habe ich schon acht
Menschen getötet. Roran nahm seinen Hammer und wankte
durch den Flur, bis Elain in ihrem weißen Nachthemd ihm den Weg
versperrte.
Sie sah ihn aus großen Augen an, dann nahm
sie ihn am Arm und drückte Roran auf eine an der Wand stehende
Holztruhe. »Du musst zu Gertrude.«
»Aber...«
»Du wirst ohnmächtig, wenn die Schulter
nicht aufhört zu bluten.«
Er schaute an seiner rechten Seite herab;
alles schimmerte rot. Er biss vor Schmerz auf die Zähne. »Zuerst
müssen wir Katrina befreien, bevor sie ihr etwas antun.«
»Er hat Recht, Elain, wir können nicht
warten«, sagte Horst. »Verbinde ihn, so gut du kannst, und dann
ziehen wir los.« Elain kräuselte die Lippen und eilte zum
Wäscheschrank. Kurz darauf kehrte sie mit mehreren Tüchern zurück,
mit denen sie Rorans aufgerissene Schulter und das gebrochene
Handgelenk verband. Albriech und Baldor holten sich unterdessen
zwei Schwerter von den getöteten Soldaten, Horst begnügte sich mit
einem Speer.
Elain legte Horst die Hände an die Brust und
sagte: »Pass auf dich auf!« Sie sah ihre Söhne an. »Ihr
auch.«
»Uns passiert schon nichts, Mutter«, sagte
Albriech. Sie lächelte gezwungen und gab ihnen einen Kuss.
Sie verließen das Haus und rannten zum
Dorfrand. Die Bäume waren zur Seite gezogen worden und der
Wachmann, Byrd, lag tot in seinem Blut. Baldor hockte sich neben
ihn und untersuchte den Leichnam, dann erklärte er mit erstickter
Stimme: »Man hat ihn hinterrücks erstochen.« Durch das Rauschen in
seinen Ohren konnte Roran ihn kaum verstehen. Ihm war schwindlig
und er lehnte sich hechelnd an eine Hauswand.
»He! Wer ist da?« Jetzt erst kamen die
anderen Wachen von ihren Posten rings um das Dorf herbeigeeilt und
versammelten sich mit ihren abgedunkelten Laternen um ihren
ermordeten Kameraden. Mit gedämpfter Stimme schilderte Horst, was
geschehen war und in welcher Notlage sich Katrina befand. »Wer
kommt mit?«, fragte er. Nach kurzer Diskussion erklärten sich fünf
Männer bereit, sie zu begleiten. Die Übrigen würden im Dorf bleiben
und die Bewohner wecken.
Roran stieß sich von der Hauswand ab und
humpelte an die Spitze des Suchtrupps, der wenig später durch die
Felder auf das Ra’zac-Lager zuschlich. Jeder Schritt bereitete ihm
furchtbare Schmerzen, aber das spielte keine Rolle. Nur Katrina
zählte. Einmal stolperte er und Horst fing ihn wortlos auf.
Nach einer halben Meile erspähte Ivor auf
einem Hügel einen Wachposten. Sie mussten einen Umweg einschlagen.
Einige hundert Meter weiter kam das rötliche Schimmern der Fackeln
wieder in Sicht. Roran hob den gesunden Arm und signalisierte
damit, dass es nun langsamer voranging, dann legte er sich auf den
Bauch und kroch durchs hohe Gras. Ein aufgeschreckter Hase hoppelte
davon. Die Männer folgten Rorans Beispiel, als der zum Rand eines
Wäldchens robbte, wo er liegen blieb und den gräsernen Vorhang
teilte, um die dreizehn verbliebenen Soldaten zu beobachten.
Wo ist sie?
Wo ist
Katrina?
Anders als bei ihrer Ankunft sahen die
Soldaten mürrisch und erschöpft aus, ihre Waffen waren zerkratzt,
ihre Rüstungen zerbeult. Die meisten trugen Verbände, die voller
Blutflecken waren. Die Männer kauerten dicht beieinander um ein
niedriges Feuer, ihnen gegenüber saßen die Ra’zac.
Einer der Männer schimpfte: »Mehr als die
Hälfte von uns ist tot, umgebracht von einer Horde dummdreister
Bauerntölpel, die einen Spieß nicht von einer Schlachtaxt
unterscheiden können. Und alles nur, weil ihr beiden nicht mal halb
so viel Verstand habt wie mein Standartenjunge! Mir ist egal, ob
Galbatorix euch die Stiefel leckt, wir rühren jedenfalls keinen
Finger mehr, solange wir keinen neuen Kommandanten bekommen.« Die
Männer nickten einhellig. »Und zwar einen Menschen.«
»Ach ja?«, sagte
einer der Ra’zac leise.
»Wir haben es satt, uns von euch Bucklingen
herumkommandieren zu lassen. Ihr macht uns krank mit eurem
Gezische! Und ich weiß zwar nicht, was ihr mit Sardson angestellt
habt, aber wenn ihr noch eine Nacht länger hier bleibt, kriegt ihr
unsere Klingen zu spüren, und dann werden wir sehen, ob ihr blutet
wie wir. Das Mädchen könnt ihr aber hier lassen, sie ist -«
Der Mann konnte den Satz nicht zu Ende
sprechen, denn der größere der Ra’zac sprang über das Feuer und
landete wie eine riesige Krähe auf seinen Schultern. Schreiend
brach der Soldat unter der Last zusammen. Er versuchte, sein
Schwert zu greifen, doch der Ra’zac hackte ihm mit dem spitzen
Schnabel zweimal in den Hals, dann regte sich der Mann nicht
mehr.
»Gegen so
was müssen wir kämpfen?«, flüsterte Ivor hinter
Roran.
Starr vor Schreck schauten die Soldaten zu,
wie die beiden Ra’zac aus dem Hals der Leiche tranken. Als sich die
Finsterlinge erhoben, rieben sie sich die knochigen Hände, als
wüschen sie sich. »Ja, wir werden gehen. Bleibt ruhig hier, wenn
ihr wollt. In wenigen Tagen kommt Verstärkung.« Die Ra’zac warfen
die Köpfe zurück und jaulten den Himmel an. Der Ton wurde immer
schriller, bis man ihn nicht mehr hören konnte.
Auch Roran schaute auf. Zuerst sah er
nichts, aber dann packte ihn namenloses Entsetzen, als weit oben
über dem Buckel inmitten des funkelnden Sternenmeers zwei schwarze
Punkte auftauchten. Sie kamen rasend schnell näher, wurden größer
und größer, bis ihre bedrohlichen Umrisse den halben Himmel
ausfüllten. Ein stinkender schwefliger Wind wehte über das Land. Es
roch so grauenhaft, dass Roran würgte und sich fast übergeben
hätte.
Den Soldaten ging es genauso. Sie hielten
sich fluchend die Nasen zu.
Über ihnen kamen die beiden finsteren
Umrisse zum Stillstand und sanken herab, verschluckten das
Ra’zac-Lager in einer Kuppel unheilvoller Dunkelheit. Die Fackeln
flackerten auf und drohten zu verlöschen, verströmten aber noch
genügend Licht, um die beiden zwischen den Zelten landenden Wesen
erkennen zu können.
Ihre Leiber waren nackt und haarlos wie
neugeborene Mäuse und hatten eine ledrige graue Haut, die sich über
den gezäumten Brustkörben und Bäuchen spannte. Sie ähnelten
abgemagerten Pferden, nur dass die Muskeln an ihren Hinterbeinen so
prall und fest waren, dass sie damit Felsbrocken zermalmen konnten.
An der Rückseite ihrer länglichen Köpfe saßen schmale Federbüsche,
vorne hatten sie lange schwarze Schnäbel zum Aufspießen ihrer
Beute. Ihre tellerrunden schwarzen Glubschaugen ähnelten denen der
Ra’zac. Ihren Schultern und Rücken entsprangen gewaltige
Flügelschwingen, welche die Luft unter ihrem Gewicht ächzen
ließen.
Die Soldaten warfen sich zu Boden und
hielten ihre Köpfe mit den Armen schützend bedeckt. Eine
schreckliche, fremdartige Intelligenz ging von den Wesen aus, die
von einer Art kündeten, die viel älter und mächtiger war als die
der Menschen. Plötzlich hatte Roran Angst, dass seine Mission
scheitern könnte. Hinter ihm flüsterte Horst den Männern mahnend
zu, sich nicht zu rühren, da man sie sonst umbringen würde.
Die Ra’zac verneigten sich vor den
Flugrössern, dann gingen sie ins Zelt und kamen mit der gefesselten
Katrina heraus. Vorneweg lief Sloan. Er trug keine Fesseln.
Roran starrte ihn verdutzt an und konnte
nicht begreifen, wie Sloan den Soldaten hatte in die Arme laufen
können. Er wohnt doch viel zu weit von
Horsts Haus weg, dachte er verwirrt. Dann begriff er. »Er
hat uns verraten«, flüsterte Roran. Seine Faust schloss sich fester
um seinen Hammer, während ihm das wahre Ausmaß der Tragödie bewusst
wurde. »Er hat Byrd umgebracht und uns an die Ra’zac verraten!«
Tränen der Wut rannen ihm übers Gesicht.
»Roran«, murmelte Horst, der zu ihm
herangekrochen war. »Wir können jetzt nicht angreifen. Sie würden
uns abschlachten. Roran … Verstehst du mich?«
Er hörte nur ein fernes Flüstern, während er
beobachtete, wie der kleinere Ra’zac sein Flugross bestieg und dann
Katrina auffing, die von dem anderen Ra’zac hochgeworfen wurde.
Sloan schien sich über irgendetwas aufzuregen. Er begann, mit den
Ra’zac zu streiten, schüttelte den Kopf und deutete auf den Boden.
Schließlich schlug der größere Ra’zac ihm ins Gesicht, sodass Sloan
bewusstlos umfiel. Der Ra’zac warf sich den Metzger über die
Schulter, stieg auf sein Ross und erklärte: »Wir kehren zurück,
wenn es wieder ssssicher issst. Wenn ihr den Jungen tötet, ist euer
Leben verwirkt.« Dann beugten die Flugrösser die muskelbepackten
Hinterbeine und stießen sich mit einem mächtigen Satz in die Luft
ab, nun wieder nicht mehr als dunkle Punkte im Sternenmeer.
Roran hatte keine Worte für das, was er
soeben beobachtet hatte. Er war wie erstarrt. Seine Welt lag in
Scherben. Jetzt blieb ihm nur noch, die Soldaten zu töten. Er
setzte sich auf und hob den Hammer, aber als er losstürmen wollte,
pochte sein Kopf plötzlich im Gleichtakt mit seiner zerfetzten
Schulter, der Boden verschwand in einem grellen Lichtblitz und er
fiel besinnungslos vornüber.