DAS ANTLITZ DES FEINDES

Während Roran den Rest des Tages verschiedensten Aufgaben nachging, spürte er bis in sein tiefstes Inneres, wie leer es auf einmal in Carvahall war. Es war, als hätte man dem Ort einen Teil seiner Seele genommen und in den Buckel verpflanzt. Ohne die Kinder wirkte das Dorf nun endgültig wie eine Festung. Die plötzliche Verwandlung schien die Übriggebliebenen ernst und mürrisch zu machen.
Als die Sonne schließlich in die Zähne des Buckels hinabsank, erklomm Roran den Hügel zu Horsts Haus. Vor der Eingangstür blieb er stehen und legte die Hand auf den Knauf, doch dann verharrte er. Er brachte es nicht über sich hineinzugehen. Ich habe auf einmal beinahe so große Angst wie vor einem Kampf, erkannte er verblüfft.
Schließlich ging er um das Haus herum und schlüpfte durch die Hintertür in die Küche, wo er zu seiner Enttäuschung Elain erblickte, die häkelnd am Tisch saß und sich mit Katrina unterhielt. Katrina wandte sich zu ihm um und aus Roran platzte es heraus: »Geht es... Geht es dir wieder gut?«
Katrina kam zu ihm. »Ja.« Sie lächelte leise. »Es war nur ein solcher Schock, als Vater... als er...« Sie zog für einen Moment den Kopf ein. »Elain war sehr lieb zu mir. Ich darf heute in Baldors Zimmer schlafen.«
»Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht«, sagte Roran. Er trat auf sie zu, umarmte sie und versuchte, seine ganze Liebe und Bewunderung in diese einfache Berührung zu legen.
Elain packte ihr Häkelzeug beiseite. »Komm jetzt! Es ist dunkel geworden und du musst schleunigst ins Bett, Katrina.«
Widerwillig ließ Roran Katrina los. Sie gab ihm einen Gutenachtkuss. »Bis morgen früh.«
Er wollte ihr nachgehen, blieb aber stehen, als Elain in scharfem Ton sagte: »Roran!« Ihre fein geschnittenen Züge waren hart und ernst.
»Ja?«
Elain wartete, bis sie das Knarren der Stufen vernahmen, das signalisierte, dass Katrina außer Hörweite war. »Ich hoffe, du hast jedes Wort und jedes Versprechen, das du dem Mädchen gegeben hast, ernst gemeint, denn wenn nicht, berufe ich das Dorftribunal ein und lasse dich verbannen.«
Roran war perplex. »Natürlich meine ich es ernst! Ich liebe sie!«
»Katrina hat heute alles, was ihr gehört und woran ihr etwas liegt, für dich aufgegeben.« Elain sah ihn eindringlich an. »Ich habe Männer gesehen, die ihre Gunst an Frauen verteilt haben wie Korn, das man an Hühner verstreut. Die jungen Dinger seufzen und weinen vor Glück und glauben, etwas Besonderes zu sein, doch für den Mann ist es nur ein flüchtiges Abenteuer. Du warst immer ein anständiger Kerl, Roran, aber die Lenden eines Mannes können selbst den nettesten Burschen in einen liebestollen Narren oder einen verschlagenen Fuchs verwandeln. Bist du so einer? Denn Katrina braucht weder einen Narren noch einen Schwindler, ja nicht einmal Liebe ist das Wichtigste. Was sie vor allem braucht, ist ein Mann, der sie ernährt. Wenn du sie verlässt, ist sie die ärmste Frau im Dorf. Sie müsste von Almosen leben, wäre unsere erste und einzige Bettlerin. Beim Blut in meinen Adern, das werde ich nicht zulassen!«
»Ich auch nicht«, protestierte Roran. »Ich wäre ein herzloser Schuft oder Schlimmeres, wenn ich so etwas zuließe.«
Elain schob das Kinn vor. »Genau. Vergiss nicht, du beabsichtigst, eine Frau zu heiraten, die sowohl ihre Aussteuer als auch die Erbschaft ihrer Mutter verloren hat. Begreifst du, was das für Katrina bedeutet? Sie hat kein Silberbesteck, keine Wäsche, keine Vorhänge, keinerlei Hausrat, nichts, was man für ein anständiges Heim benötigt. Diese Dinge sind unser einziger Besitz, sie werden seit dem Tag unserer Besiedlung Alagaësias von der Mutter zur Tochter weitervererbt. Sie bestimmen unseren Wert. Eine Frau ohne ihre Erbschaft ist wie … wie...«
»Wie ein Mann ohne Hof oder Geschäft«, ergänzte Roran.
»Ganz genau. Es war grausam von Sloan, Katrina zu enterben, aber das lässt sich nun wohl nicht mehr ändern. Ihr beiden habt kein Geld und keine Rücklagen. Das Leben ist auch ohne diese zusätzliche Erschwernis mühsam genug. Ihr werdet mit nichts anfangen, nur mit der blanken Erde unter euren Händen. Erschreckt dich diese Aussicht oder scheint sie dir unerträglich? Also, ich frage dich noch einmal - und lüge mich nicht an, sonst werdet ihr beiden es für den Rest eures Lebens bereuen -, wirst du ohne Groll, ohne jeden Widerwillen für sie sorgen?«
»Ja.«
Elain seufzte und füllte zwei Tonbecher mit Apfelwein aus einer Kanne, die an einem Dachsparren hing. Sie reichte Roran einen der Becher und setzte sich wieder an den Tisch. »Dann schlage ich vor, dass du dich fortan darum bemühst, Katrinas Zuhause und Erbschaft zu ersetzen, damit sie und eure Töchter, die ihr vielleicht haben werdet, ohne Schande Teil unserer Frauengemeinschaft sein können.«
Roran trank einen Schluck von dem kühlen Wein. »Falls wir so lange leben.«
»Natürlich.« Sie strich eine Haarsträhne zurück und schüttelte den Kopf. »Du hast dir einen schweren Weg ausgesucht, Roran.«
»Ich musste sicherstellen, dass Katrina Carvahall verlässt.«
Elain hob eine Augenbraue. »Das war es also! Nun, dagegen lässt sich nichts einwenden, aber warum in aller Welt hast du Sloan nicht früher von eurer Verlobung erzählt? Als Horst bei meinem Vater vorstellig wurde, schenkte er meiner Familie zwölf Schafe, eine Sau und acht schmiedeeiserne Kerzenhalter, bevor er überhaupt wusste, ob meine Eltern ihr Einverständnis geben würden. So macht man so was! Hättest du dir nichts Klügeres einfallen lassen können, als deinen künftigen Schwiegervater niederzuschlagen - und dann auch noch vor dem ganzen versammelten Dorf?«
Roran lachte bitter. »Das hätte ich wohl, aber wegen der Attacken schien nie der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein.«
»Die Ra’zac haben uns jetzt seit sechs Tagen nicht mehr angegriffen.«
Er verzog das Gesicht. »Nein, aber … Es war... Ach, ich weiß nicht!« Frustriert schlug er mit der Faust auf den Tisch.
Elain stellte ihren Becher ab und legte ihre schlanken Hände um seine. »Falls es dir gelänge, dein Zerwürfnis mit Sloan jetzt beizulegen, bevor sich zwischen euch jahrelang Hass aufstaut, würde dein Leben mit Katrina um vieles leichter. Du solltest morgen früh zu ihm gehen und ihn um Vergebung bitten.«
»Ich werde ihn um gar nichts bitten! Nicht ihn!«
»Roran, hör mir zu! Die Sache wäre es sogar wert, sich einen Monat lang jeden Tag vor seinen Füßen in den Staub zu werfen, wenn du dafür Frieden in deiner Familie schaffen könntest. Ich spreche aus Erfahrung. Mit jemandem im Streit zu liegen, ist unendlich belastend.«
»Sloan hasst den Buckel! Er will nichts mit mir zu tun haben!«
»Du musst es trotzdem versuchen«, sagte Elain ernst. »Selbst wenn er deine Entschuldigung zurückweist, kann man dir hinterher nicht vorwerfen, dass du es nicht wenigstens versucht hättest. Wenn du Katrina liebst, dann vergiss deinen Stolz und tu, was am besten für sie ist. Sie soll nicht deinetwegen leiden müssen.« Sie leerte ihren Becher, pustete die Kerzen aus und ließ Roran allein im Dunkeln sitzen.
Es vergingen einige Minuten, bevor Roran es fertig brachte aufzustehen. Er hangelte sich am Küchentresen entlang, bis er die Tür erreichte, dann tastete er mit den Fingerspitzen über die Holzwand und stieg die Stufen hinauf. In seinem Zimmer zog er sich aus und warf sich quer aufs Bett.
Die Arme um das dicke Kissen geschlungen, lauschte Roran den leisen Geräuschen, die man des Nachts im Haus hörte: das Tippeln einer Maus auf dem Dachboden und ihre gelegentlichen Piepser, das Ächzen der in der Nacht abkühlenden Holzbalken, das Flüstern des Windes am Fenster und … leise Schritte im Flur.
Er sah, wie sich der Türknauf drehte und die Tür sich ein Stück nach innen öffnete. Eine dunkle Gestalt schlüpfte ins Zimmer und Roran spürte weiches Haar und Lippen wie Rosenblüten über sein Gesicht streichen. Er seufzte.
Katrina.
 
Ein Donnerschlag riss Roran aus dem Schlaf.
Grelles Licht schien ihm ins Gesicht, während er darum rang, richtig wach zu werden, wie ein Taucher, der verzweifelt versuchte, zur Wasseroberfläche aufzusteigen. Er schlug die Augen auf und sah das klaffende Loch in der Tür. Sechs Soldaten stiegen durch die Öffnung ins Zimmer, gefolgt von den beiden Ra’zac, deren grausige Präsenz den ganzen Raum auszufüllen schien. Man presste ihm eine Schwertklinge an die Kehle. Neben ihm schrie Katrina auf und schlang sich die Bettdecke um den Leib.
»Aufssstehn«, befahl einer der Ra’zac. Roran stieg aus dem Bett. Sein Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment in seiner Brust explodieren. »Fesselt ihn und bringt ihn her!«
Als ein Soldat mit einem Strick auf Roran zutrat, schrie Katrina erneut und stürzte sich, beißend und wild um sich schlagend, auf die Männer. Ihre scharfen Fingernägel zerkratzten ihnen die Gesichter, bis das herausschießende Blut den fluchenden Soldaten die Sicht nahm.
Roran bückte sich blitzschnell und hob den Hammer auf, dann schwang er ihn über den Kopf und wirbelte unter lautem Gebrüll herum. Die Soldaten stürzten sich auf ihn und versuchten, ihn durch ihre Überzahl zu überwältigen, aber es war vergebens: Katrina war in Gefahr und er raste vor Wut. Schilde zerbrachen unter seinen gnadenlosen Hammerschlägen, Brustpanzer und Kettenhemden zerrissen, Helme sprangen entzwei. Zwei Männer waren verletzt, drei andere stürzten und blieben leblos liegen.
Der Lärm hatte die übrigen Hausbewohner geweckt. Roran hörte Horsts aufgeregte Rufe durch den Flur schallen. Die Ra’zac zischten sich etwas zu, dann huschten sie heran, hoben Katrina mit übermenschlicher Kraft vom Boden und flohen mit ihr aus dem Zimmer.
»Roran!«, kreischte sie.
Er stürmte an den beiden noch lebenden Soldaten vorbei und sah im Flur, wie die Ra’zac aus dem Fenster kletterten. Roran rannte auf sie zu und schlug mit dem Hammer nach dem letzten Ra’zac, der gerade von der Fensterbank springen wollte. Der Finsterling riss den Arm in die Höhe, packte Rorans heranfliegendes Handgelenk und kicherte vergnügt. Sein fauliger Atem blies Roran ins Gesicht. »Sssehr gut! Wir wollen nämlich dich!«
Roran versuchte, sich loszureißen, aber der Ra’zac war zu stark. Mit seiner freien Hand schlug Roran auf dessen Kopf und die Schultern ein, die hart waren wie Eisen. Verzweifelt riss er die Kapuze des Ra’zac zurück und entblößte dessen Gesicht.
Eine grässliche Fratze kam zum Vorschein. Die Haut war schwarz glänzend, wie der Rückenpanzer eines Käfers. Der Kopf war kahl. Die lidlosen Augen waren so groß wie seine Fäuste und schimmerten wie runde, polierte Eisenstücke. Sie hatten weder eine Iris noch Pupillen. Statt Nase, Mund und Kinn besaß der Ra’zac einen dicken, krummen Schnabel und eine purpurne, mit feinen Stacheln besetzte Zunge.
Brüllend stemmte Roran sich mit den Füßen gegen den Fensterrahmen und versuchte, sich von der Bestie loszureißen, doch der Ra’zac zog ihn unaufhaltsam aus dem Haus. Roran konnte unten Katrina sehen, die noch immer schrie und um sich schlug.
Als Rorans Knie einzuknicken drohten, tauchte plötzlich Horst neben ihm auf, schlang einen muskulösen Arm um seine Brust und hielt ihn fest. »Bringt mir einen Speer!«, brüllte der Schmied. Er keuchte, und an seinem Hals traten die Adern hervor, während er Roran nach Leibeskräften festhielt. »Um uns zu übertölpeln, müssen schon andere kommen als diese lausige Dämonenbrut!«
Der Ra’zac zerrte ein letztes Mal an Roran, und als er ihn nicht losreißen konnte, neigte er den Kopf und zischte: »Du gehörst unsss!« Dann schnellte er blitzartig vor und schnappte mit seinem Schnabel nach Rorans Schulter, stieß ihm mit aller Kraft ins Fleisch. Gleichzeitig brach mit einem lauten Knacken Rorans Handgelenk. Dann ließ ihn der Ra’zac mit einem hasserfüllten Schnattern los und sprang hinunter in die Dunkelheit.
Horst und Roran sanken erschöpft zu Boden. »Sie haben Katrina entführt«, stammelte Roran. Sein Sichtfeld flackerte und wurde an den Rändern schwarz, als er sich mit dem linken Arm abstützte - der rechte hing schlaff herunter - und sich mühsam auf die Beine kämpfte. Albriech und Baldor kamen aus seinem Zimmer. Sie waren mit Blut besudelt. Hinter den beiden Brüdern lagen die Leichen.Jetzt habe ich schon acht Menschen getötet. Roran nahm seinen Hammer und wankte durch den Flur, bis Elain in ihrem weißen Nachthemd ihm den Weg versperrte.
Sie sah ihn aus großen Augen an, dann nahm sie ihn am Arm und drückte Roran auf eine an der Wand stehende Holztruhe. »Du musst zu Gertrude.«
»Aber...«
»Du wirst ohnmächtig, wenn die Schulter nicht aufhört zu bluten.«
Er schaute an seiner rechten Seite herab; alles schimmerte rot. Er biss vor Schmerz auf die Zähne. »Zuerst müssen wir Katrina befreien, bevor sie ihr etwas antun.«
»Er hat Recht, Elain, wir können nicht warten«, sagte Horst. »Verbinde ihn, so gut du kannst, und dann ziehen wir los.« Elain kräuselte die Lippen und eilte zum Wäscheschrank. Kurz darauf kehrte sie mit mehreren Tüchern zurück, mit denen sie Rorans aufgerissene Schulter und das gebrochene Handgelenk verband. Albriech und Baldor holten sich unterdessen zwei Schwerter von den getöteten Soldaten, Horst begnügte sich mit einem Speer.
Elain legte Horst die Hände an die Brust und sagte: »Pass auf dich auf!« Sie sah ihre Söhne an. »Ihr auch.«
»Uns passiert schon nichts, Mutter«, sagte Albriech. Sie lächelte gezwungen und gab ihnen einen Kuss.
Sie verließen das Haus und rannten zum Dorfrand. Die Bäume waren zur Seite gezogen worden und der Wachmann, Byrd, lag tot in seinem Blut. Baldor hockte sich neben ihn und untersuchte den Leichnam, dann erklärte er mit erstickter Stimme: »Man hat ihn hinterrücks erstochen.« Durch das Rauschen in seinen Ohren konnte Roran ihn kaum verstehen. Ihm war schwindlig und er lehnte sich hechelnd an eine Hauswand.
»He! Wer ist da?« Jetzt erst kamen die anderen Wachen von ihren Posten rings um das Dorf herbeigeeilt und versammelten sich mit ihren abgedunkelten Laternen um ihren ermordeten Kameraden. Mit gedämpfter Stimme schilderte Horst, was geschehen war und in welcher Notlage sich Katrina befand. »Wer kommt mit?«, fragte er. Nach kurzer Diskussion erklärten sich fünf Männer bereit, sie zu begleiten. Die Übrigen würden im Dorf bleiben und die Bewohner wecken.
Roran stieß sich von der Hauswand ab und humpelte an die Spitze des Suchtrupps, der wenig später durch die Felder auf das Ra’zac-Lager zuschlich. Jeder Schritt bereitete ihm furchtbare Schmerzen, aber das spielte keine Rolle. Nur Katrina zählte. Einmal stolperte er und Horst fing ihn wortlos auf.
Nach einer halben Meile erspähte Ivor auf einem Hügel einen Wachposten. Sie mussten einen Umweg einschlagen. Einige hundert Meter weiter kam das rötliche Schimmern der Fackeln wieder in Sicht. Roran hob den gesunden Arm und signalisierte damit, dass es nun langsamer voranging, dann legte er sich auf den Bauch und kroch durchs hohe Gras. Ein aufgeschreckter Hase hoppelte davon. Die Männer folgten Rorans Beispiel, als der zum Rand eines Wäldchens robbte, wo er liegen blieb und den gräsernen Vorhang teilte, um die dreizehn verbliebenen Soldaten zu beobachten.
Wo ist sie?
Wo ist Katrina?
Anders als bei ihrer Ankunft sahen die Soldaten mürrisch und erschöpft aus, ihre Waffen waren zerkratzt, ihre Rüstungen zerbeult. Die meisten trugen Verbände, die voller Blutflecken waren. Die Männer kauerten dicht beieinander um ein niedriges Feuer, ihnen gegenüber saßen die Ra’zac.
Einer der Männer schimpfte: »Mehr als die Hälfte von uns ist tot, umgebracht von einer Horde dummdreister Bauerntölpel, die einen Spieß nicht von einer Schlachtaxt unterscheiden können. Und alles nur, weil ihr beiden nicht mal halb so viel Verstand habt wie mein Standartenjunge! Mir ist egal, ob Galbatorix euch die Stiefel leckt, wir rühren jedenfalls keinen Finger mehr, solange wir keinen neuen Kommandanten bekommen.« Die Männer nickten einhellig. »Und zwar einen Menschen
»Ach ja?«, sagte einer der Ra’zac leise.
»Wir haben es satt, uns von euch Bucklingen herumkommandieren zu lassen. Ihr macht uns krank mit eurem Gezische! Und ich weiß zwar nicht, was ihr mit Sardson angestellt habt, aber wenn ihr noch eine Nacht länger hier bleibt, kriegt ihr unsere Klingen zu spüren, und dann werden wir sehen, ob ihr blutet wie wir. Das Mädchen könnt ihr aber hier lassen, sie ist -«
Der Mann konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn der größere der Ra’zac sprang über das Feuer und landete wie eine riesige Krähe auf seinen Schultern. Schreiend brach der Soldat unter der Last zusammen. Er versuchte, sein Schwert zu greifen, doch der Ra’zac hackte ihm mit dem spitzen Schnabel zweimal in den Hals, dann regte sich der Mann nicht mehr.
»Gegen so was müssen wir kämpfen?«, flüsterte Ivor hinter Roran.
Starr vor Schreck schauten die Soldaten zu, wie die beiden Ra’zac aus dem Hals der Leiche tranken. Als sich die Finsterlinge erhoben, rieben sie sich die knochigen Hände, als wüschen sie sich. »Ja, wir werden gehen. Bleibt ruhig hier, wenn ihr wollt. In wenigen Tagen kommt Verstärkung.« Die Ra’zac warfen die Köpfe zurück und jaulten den Himmel an. Der Ton wurde immer schriller, bis man ihn nicht mehr hören konnte.
Auch Roran schaute auf. Zuerst sah er nichts, aber dann packte ihn namenloses Entsetzen, als weit oben über dem Buckel inmitten des funkelnden Sternenmeers zwei schwarze Punkte auftauchten. Sie kamen rasend schnell näher, wurden größer und größer, bis ihre bedrohlichen Umrisse den halben Himmel ausfüllten. Ein stinkender schwefliger Wind wehte über das Land. Es roch so grauenhaft, dass Roran würgte und sich fast übergeben hätte.
Den Soldaten ging es genauso. Sie hielten sich fluchend die Nasen zu.
Über ihnen kamen die beiden finsteren Umrisse zum Stillstand und sanken herab, verschluckten das Ra’zac-Lager in einer Kuppel unheilvoller Dunkelheit. Die Fackeln flackerten auf und drohten zu verlöschen, verströmten aber noch genügend Licht, um die beiden zwischen den Zelten landenden Wesen erkennen zu können.
Ihre Leiber waren nackt und haarlos wie neugeborene Mäuse und hatten eine ledrige graue Haut, die sich über den gezäumten Brustkörben und Bäuchen spannte. Sie ähnelten abgemagerten Pferden, nur dass die Muskeln an ihren Hinterbeinen so prall und fest waren, dass sie damit Felsbrocken zermalmen konnten. An der Rückseite ihrer länglichen Köpfe saßen schmale Federbüsche, vorne hatten sie lange schwarze Schnäbel zum Aufspießen ihrer Beute. Ihre tellerrunden schwarzen Glubschaugen ähnelten denen der Ra’zac. Ihren Schultern und Rücken entsprangen gewaltige Flügelschwingen, welche die Luft unter ihrem Gewicht ächzen ließen.
Die Soldaten warfen sich zu Boden und hielten ihre Köpfe mit den Armen schützend bedeckt. Eine schreckliche, fremdartige Intelligenz ging von den Wesen aus, die von einer Art kündeten, die viel älter und mächtiger war als die der Menschen. Plötzlich hatte Roran Angst, dass seine Mission scheitern könnte. Hinter ihm flüsterte Horst den Männern mahnend zu, sich nicht zu rühren, da man sie sonst umbringen würde.
Die Ra’zac verneigten sich vor den Flugrössern, dann gingen sie ins Zelt und kamen mit der gefesselten Katrina heraus. Vorneweg lief Sloan. Er trug keine Fesseln.
Roran starrte ihn verdutzt an und konnte nicht begreifen, wie Sloan den Soldaten hatte in die Arme laufen können. Er wohnt doch viel zu weit von Horsts Haus weg, dachte er verwirrt. Dann begriff er. »Er hat uns verraten«, flüsterte Roran. Seine Faust schloss sich fester um seinen Hammer, während ihm das wahre Ausmaß der Tragödie bewusst wurde. »Er hat Byrd umgebracht und uns an die Ra’zac verraten!« Tränen der Wut rannen ihm übers Gesicht.
»Roran«, murmelte Horst, der zu ihm herangekrochen war. »Wir können jetzt nicht angreifen. Sie würden uns abschlachten. Roran … Verstehst du mich?«
Er hörte nur ein fernes Flüstern, während er beobachtete, wie der kleinere Ra’zac sein Flugross bestieg und dann Katrina auffing, die von dem anderen Ra’zac hochgeworfen wurde. Sloan schien sich über irgendetwas aufzuregen. Er begann, mit den Ra’zac zu streiten, schüttelte den Kopf und deutete auf den Boden. Schließlich schlug der größere Ra’zac ihm ins Gesicht, sodass Sloan bewusstlos umfiel. Der Ra’zac warf sich den Metzger über die Schulter, stieg auf sein Ross und erklärte: »Wir kehren zurück, wenn es wieder ssssicher issst. Wenn ihr den Jungen tötet, ist euer Leben verwirkt.« Dann beugten die Flugrösser die muskelbepackten Hinterbeine und stießen sich mit einem mächtigen Satz in die Luft ab, nun wieder nicht mehr als dunkle Punkte im Sternenmeer.
Roran hatte keine Worte für das, was er soeben beobachtet hatte. Er war wie erstarrt. Seine Welt lag in Scherben. Jetzt blieb ihm nur noch, die Soldaten zu töten. Er setzte sich auf und hob den Hammer, aber als er losstürmen wollte, pochte sein Kopf plötzlich im Gleichtakt mit seiner zerfetzten Schulter, der Boden verschwand in einem grellen Lichtblitz und er fiel besinnungslos vornüber.

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
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